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Antje Babendererde: Starlight Blues

Starlight Blues (Cover: Merlin Verlag 2009) In der Kälte der Nachtlink

Ein Krimi mit realem Hintergrund
von Monika Seiller
(veröffentlicht 2/2009)

Mit „Starlight Blues“ hat Antje Babendererde einen spannenden Krimi vorgelegt, der den Leser auf die Schattenseiten der kanadischen Stadt Winnipeg führt. Die Metropole von Manitoba ist nicht nur Schauplatz der Geschichte, sondern wird selbst zu einer bedrohlichen Macht, deren eisige Kälte nicht allein in Celsiusgraden zu messen ist, sondern zu einem Symbol für die Lebensumstände der dort lebenden Indianer wird. Schon bei seiner Ankunft schlägt dem Helden die eisige Atmosphäre entgegen: „Als wir den Terminal verließen, wehte der Schnee wie ein kalter Fluch in mein Gesicht. Eisiger Wind biss in meine Haut… Ich schluckte einen Schwall Kälte, die im Hals brannte und mir den Atem nahm.“

Adam Cameron hasst die Kälte, den Schnee, den eisigen Wind, der geradezu Panik bei dem Detektiv aus Seattle auslöst. Eigentlich träumt der gelernte Journalist schon seit Jahren davon, mit seiner Frau Susan und den beiden Kindern Amina und Michael in den Süden zu ziehen, vielleicht nach Kalifornien, wo die Sonne jeden Gedanken an den Winter vertreibt. Wäre da nicht noch seine Halbschwester Alice, die das von den bei einem tragischen Unfall vor vierzehn Jahren gestorbenen Eltern geerbte Verlagshaus betreibt. Dank dieses Erbes kann es sich unser Held leisten, neben dem Journalismus auch auf den Pfaden Philip Marlowes zu wandeln. Es ist nicht überraschend, dass Adam eine Leidenschaft für das Spurensuchen, das Schnüffeln, das Aufklären unbekannter Umstände entwickelt hat, denn er selbst ist auf der Suche – nach seiner eigenen Identität. Nach dem Unfalltod der Eltern entdeckt er in den Unterlagen, dass er nicht ihr leiblicher Sohn ist, sondern mit drei Jahren adoptiert wurde und eigentlich Blueboy heißt und indianischer Abstammung ist. Mag seine Adoption auch keine Vertreibung aus einem Paradies gewesen sein, so ist Adam doch irritiert und wütend, erst jetzt von dieser Adoption zu erfahren, die ihm sein Leben wie eine Lüge erscheinen lässt. Die Suche nach seiner leiblichen Mutter, nach der Wahrheit treibt ihn um und verfolgt ihn bis in seine Albträume, in denen er in eisiger Kälte von Windigo, dem kannibalischen Mythenwesen der Indianer gejagt wird.

Ein Anruf lässt ihn hellhörig werden, denn am anderen Ende der Leitung meldet sich Robert Blueboy, um ihn mit der Aufklärung des Todes seines Bruders vor zehn Jahren zu beauftragen. Robert ist am Ende seiner Kräfte, der Tod seines Bruders quält ihn mit Albträumen, seine Frau hat ihn soeben mit dem gemeinsamen Sohn verlassen, er hat seinen Job verloren und auch seine übrige Familie ist vom tragischen Tod des damals 17-jährigen Daniel Blueboy gezeichnet, der eines Nachts bei -28°C am Stadtrand von Winnipeg erfroren aufgefunden wurde. Natürlich erscheint die Aufklärung des Falls nach so langer Zeit zunächst als aussichtslos, doch die innere Stimme treibt Adam, den Fall anzunehmen, in der Hoffnung, seine eigenen Wurzeln und damit das Rätsel seines Lebens zu lösen. Trotz seiner Panik vor dem Fliegen und der Kälte setzt er sich mitten im eisigen Winter sofort in den Flieger nach Winnipeg.

Polizeiphoto des Leichnams von Neil Stonechild (1990) Was ihn dort empfängt ist nicht nur die Geschichte des tragischen Todes eines Indianerjungen, sondern das Schicksal Tausender Indianer, die in einer Stadt stranden, die ihnen mit Rassismus, Elend und Kälte begegnet. Babendererde hat hier ein wichtiges Thema der indianischen Gegenwart mit einem wahren Vorfall verknüpft (siehe nachfolgenden Beitrag zu „Starlight Tours“, auch wenn sie den Fall von Saskatchewan nach Manitoba verlegt hat) und daraus einen komplex konstruierten Roman verfasst. Mit den Augen des Detektivs, der erst die eigene indianische Identität finden muss, gleichzeitig aber eine wohlbehüteten Kindheit, eine gute Bildung und finanzielle Sicherheit erleben durfte, blicken wir auf den Abgrund, den viele Stadtindianer erfahren müssen.

Ein Drittel der Indianer Manitobas lebt bereits in Winnipeg, „Leute, die ihrer Kultur völlig entfremdet sind. Dazu kommt, dass es unter den Indianern und Metis viele allein stehende Frauen gibt. Sie sind geschieden, verwitwet oder leben getrennt. Und sie haben Kinder, die sie alleine groß ziehen müssen…. Viele der indianischen Frauen gehen auf den Strich, um ihre Kinder zu ernähren. Ihre Töchter lernen, dass dies die einzig lukrative Einnahmequelle für sie ist, und folgen ihren Müttern auf die Straße. Die Söhne finden sich in Gangs zusammen, da können sie wenigstens beweisen, dass sie richtige Kerle sind. Alles weitere passiert ganz von allein…Ein Indianer, der vor Gericht steht, steht dort nicht als Individuum, sondern als Vertreter seines Volkes“, erklärt die Anwältin Maggie, die Adam bei seiner Suche unterstützt.

Winnipeg steht mit dieser Situation nicht allein, auch in anderen Regionen zeigen sich ähnliche Verhältnisse, und Babendererde führt uns zu den Rändern der Gesellschaft, dem indianischen Alltag: Straßengangs, Kriminalität, Prostitution, Arbeitslosigkeit und Selbstmorde, Polizeiwillkür und alltäglicher Rassismus der Gesellschaft, den selbst der gebildete Journalist Adam Cameron, aufgewachsen in der weißen Mittelschicht Amerikas, am eigenen Leib erfahren muss, denn sein Äußeres lässt unzweifelhaft den Indianer erkennen. „Schon als Teenager war mir klar geworden, dass meine Physiognomie das Verhalten der Menschen mir gegenüber beeinflusste. Wie ich mich auch kleidete oder verhielt. Schmale Augen, braune Haut, schwarzes glattes Haar und hohe Wangenknochen ließen die Leute irgendetwas denken. Etwas, das ihnen oft selbst nicht bewusst war. Daran hat sich bis heute nichts geändert, nur dass ich mittlerweile damit umgehen konnte.“

Aber Babendererde will uns keine Schwarzweißmalerei vorführen und zeigt, das es selbst an den ausgefransten Rändern Winnipegs Zeichen der Hoffnung, des Widerstands und der Solidarität gibt: Sozialarbeiter, Aktivisten und Anwälte, die sich für die Rechte der Indigenen engagieren. Babendererde hat gut recherchiert und lässt ihre Kenntnisse in den Krimi einfließen – ob es sich um die Organisation „Copwatch“ handelt, die tatsächlich 2006 in Winnipeg gegründet wurde und sich gegen Polizeiwillkür engagiert, oder die „Winnipeg Police Association“, die wegen ihres Rassismus und Brutalität verrufene (und mehrfach angeklagte) Polizeigewerkschaft. Grenzgänger zwischen den Welten haben es schwierig, so wie Leon Napope, ein Cop, der sein Cree-Dorf verließ, um Polizist zu werden, damals einer von acht Indianern, „die restlichen 1096 Polizisten waren Weiße“. In seiner Sprache gibt es kein Wort für Polizist, nur eine bezeichnende Umschreibung: „Der, der die Waffe auf dich richtet.“

Manchmal wirken die Erläuterungen allerdings etwas eingeschoben und aufgesetzt. An manchen Stellen hat die Rezensentin das Gefühl, die Autorin sei von den Fakten selbst so betroffen, dass sie das Recherchierte unbedingt an den Leser weitergeben müsse: von der Oka-Krise über die Residential Schools bis zur schrecklichen Situation der „Missing Women“ in Kanada, die ja auch zu Recht immer wieder im Coyote thematisiert wird.

Adam Cameron – und mit ihm der Leser, sich schnell an der Seite des Ich-Erzählers einfindet – kämpft sich auf der mühsamen Suche nach der Wahrheit durch all die Tiefen indianischen Elends, sozialer Gleichgültigkeit, aber auch aufrichtiger Hilfsbereitschaft, um am Ende – wie es sich für einen Krimi gehört – nicht nur den Fall zu lösen, sondern auch sich selbst und seiner eigenen Identität näher zu kommen. Einzelheiten sollen auf keinen Fall verraten werden, denn der Spannungsbogen entfaltet sich gekonnt und mitreißend. So dürfen auch deutsche Autorinnen jederzeit über indianisches Leben schreiben, denn vom Winnetouvirus ist Antje Babendererde, die nach „Die Suche“, „Der Walfänger“ und „Wundes Land“ nun ihren vierten „Indianerroman“ vorgelegt hat, mit diesem Krimi keinesfalls infiziert.

Antje Babendererde, Starlight Blues – In der Kälte der Nacht,
Merlin Verlag 2009, 337 Seiten, 9,95 Euro
Erhältlich beim Merlin-Verlaglink-external.

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Erstellt von oliver. Letzte Änderung: Donnerstag, 16. Juli 2020 20:16:01 CEST von oliver. (Version 6)