Der Versuch, unter extremen Bedingungen das Richtige zu tun
gelesen von Dionys Zink
Das Massaker von Wounded Knee am 29. Dezember 1890 bei dem Schätzungen zufolge bis zu dreihundert vorwiegend unbewaffnete Hunkpapa und Minneconjou-Sioux in der heutigen Pine Ridge Indian Reservation ermordet wurden, ging als die letzte militärische Tragödie im Widerstandskampf der Plains-Indianer in die Geschichte ein.
Im tiefsten Winter hatte die US-Kavallerie ausgestattet mit modernen Kanonen das Lager des Chiefs Big Foot umstellt und zwang die Indianer ihre Waffen abzugeben. Angeblich löste ein Streit um ein Gewehr den Angriff der US-Soldaten aus, die auf kürzeste Entfernung und bei der anschließenden Verfolgung fliehender Frauen und Kinder hunderte Indianer abschlachteten.
Thomas Jeiers neues Jugendbuch „Wohin der Adler fliegt“ versucht die Vorgeschichte dieses Massakers aufzuklären. Die Jahre vor diesem Ereignis, die „early reservation days“, sind geprägt von den Versuchen der US-amerikanischen Politik, die Lakota zur Sesshaftigkeit und zur Selbstversorgung durch Ackerbau zu zwingen – ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, denn die Region eignete sich aus klimatischen Gründen nicht für die Art von Landwirtschaft, wie sie damals auch von den weißen Kolonisatoren betrieben wurde.
Im Mittelpunkt der Handlung stehen historisch verbürgte Personen: die weiße Lehrerin Elaine Goodale (1863 – 1953) und ihr Lakota-Ehemann Charles Eastman alias Ohiyesa, der als erster Sioux ein Medizinstudium abschloss und später als Autor von Kindheitsgeschichten der Lakota bekannt wurde.
Aus der Sicht der Elaine Goodale werden die Missstände in der Great Sioux Reservation ausführlich beschrieben: die Abhängigkeit der Indianer von den Lebensmittellieferungen der Regierung, die Korruption der Indianeragenten, welche die Rationen eigenmächtig kürzten und die Überschüsse in die eigene Tasche steckten und die Perspektivlosigkeit der Ureinwohner, die unter diesen Umständen ihr Heil in einem Krisenkult suchten. In einer hysterisierten Zeit versucht Elaine Goodale mit gesundem Menschenverstand und Realismus sich gegen den alltäglichen Rassismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu behaupten. Ihr Dauerstreit mit den amerikanischen Behörden und mächtigen Widersachern der Gesellschaft führt an die Wurzeln auch des Schulelends in den Reservaten, das bis in die jüngste Vergangenheit andauerte. Bereits in dieser frühen Reservatsphase entschieden sich die Behörden für ein Internatssystem, dessen Methode darin bestand, die indianischen Familien zu zerstören und ihre Kinder zu einem Leben in der Welt der Weißen zu zwingen. Elaine Goodale steht dagegen für die Tagesschulen-Alternative, die mit etwas gutem Willen sehr wohl auch schon Ende des 19. Jahrhunderts hätte verwirklicht werden können.
Der Kult, der unter der Bezeichnung „Geistertanz“ zahlreiche indigene Völker im Westen der USA erfasste, ist ein weiteres Hauptthema des Romans. Die zentrale Figur der Geistertanzbewegung war der Paiute-Medizinmann Wovoka (1856? – 1932), dessen religiöse Vorstellungen traditionelle Konzepte und christliche Endzeitvorstellungen miteinander verbanden. Wesentliche Vorstellungen schlossen die Wiederkehr der Toten und der Bisons ein, die sich bei Beachtung eines traditionellen Lebensstils und der Teilnahme an fünftägigen Tanzzeremonien ereignen sollten. Vor allem die verzweifelten Lakota wandten sich dieser religiösen Bewegung zu und ergänzten sie um Vorstellungen von der Unverwundbarkeit der Geistertänzer und dem Verschwinden der Weißen.
Die indianischen Hoffnungen, die aggressive und hysterische Grenzergesellschaft und die in mehrfacher Hinsicht blauäugig-paternalistischen Vorstellungen der Ostküsten-Society kollidieren schließlich bei Wounded Knee, dem Ort des Massakers, dessen unmittelbare Folgen auch Charles Eastman und Elaine Goodale versuchten zu bewältigen, denn sie waren maßgeblich an der Versorgung der Überlebenden des Massenmords beteiligt.
Wounded Knee als Ort und als Ereignis hat in der indianischen Welt bis heute seine große symbolische Bedeutung als Epilog des militärischen, indianischen Widerstands behalten, gerade weil die militärische Gewalt von den US-Truppen ausging. In Pine Ridge ist die Erinnerung besonders lebendig, denn die Davongekommenen des Massakers lebten noch bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, die Generation der älteren Lakota kennt die indianische Version der Ereignisse also noch aus dem Mund der Opfer und Augenzeugen.
Elaine Goodale ist die Identifikationsfigur dieses Romans. An ihrem Beispiel wird versucht die Frage zu beantworten, ob es „das Richtige im Falschen“ geben kann, eine Frage, die neugierige und ernsthaft nachdenkende Jugendliche jeder Generation stellen. An weiteren Figuren werden die Alternativen durchgespielt und ihre Konsequenzen aufgezeigt. Im Rückblick und unter Berücksichtigung der damaligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen Elaine Goodales Verhalten und Handeln in diesem Roman trotz ihrer Aussichtlosigkeit als verdienstvoll. So gesehen ist dieser neue Roman von Thomas Jeier, der sich mit einem vielfach diskutierten und dokumentierten Thema befasst, eine zeitgemäße Bearbeitung des Stoffes, denn er zeigt, was war und wie es hätte sein können.
Thomas Jeier: Wohin der Adler fliegt. Das Leben der Elaine Goodale ist im Ueberreuter-Verlag erschienen, umfasst 272 Seiten und kostet 14,95 €.