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Sherman Alexie: You Don’t Have To Say You Love Me

You Don't Have To Say You Love Me (Cover: Little, Brown and Company-HBG Anstelle einer Rezension: Sherman Alexies offener Brief
(Übersetzung: Peter Strubl)

An dieser Stelle hätte eigentlich eine Rezension zu Sherman Alexies autobiographischer Neuveröffentlichung stehen sollen, die sich mit seiner komplizierten und schmerzhaften Beziehung zu seiner Mutter befasst. Es wäre dies kein leichtes Unterfangen gewesen, denn der Gegenstand, den sich der Autor für dieses Erinnerungsbuch vorgenommen hat, verbietet das routinierte Rezensieren eigentlich. Wenige Wochen nach der Veröffentlichung von „You Don’t Have to Say You Love Me“ im vergangenen Sommer beendete Sherman Alexie vorzeitig die Lesetournee, auf der er eigentlich dieses neue Buch vorstellen wollte. In einem offenen Brief an seine Leser berichtet er von seinen Erfahrungen, die ihn zum Abbruch der Lesereise bewogen haben:

Wenn du diesen offenen Brief liest, ist dir wahrscheinlich bekannt, dass ich kürzlich einen autobiographischen Text veröffentlicht habe, mit dem Titel „You Don’t Have to Say You Love Me“. Die Erinnerungen befassen sich überwiegend mit meiner Beziehung zu meiner verstorbenen Mutter Lillian Alexie. Sie war eine komplizierte und schwierige Frau. Manchmal war sie grausam und sehr oft gefühlskalt. Ich liebte sie, ja das schon, aber manchmal hasst ich sie auch. Sie war witzig, lustig, schön, großzügig, nachtragend, täuschend, sanft, manipulativ, gewalttätig, liebevoll und einschüchternd. Sie war eine der letzten Muttersprachler unserer Stammessprache, die heute wieder gelehrt wird, was eine großartige und lebensspendende Angelegenheit ist. Aber als meine Mutter starb, nahm sie viele Wörter, Geschichten und Lieder mit, die nie wieder gehört werden können. Lillian war eine Geschichtenerzählerin auf Spokane und auf Englisch. Sie war auch eine Herstellerin von Quiltdecken, eine erstaunliche Kunsthandwerkerin und Künstlerin, fleißig und ideenreich.
Und ich gebe mit ganzem Stolz zu, dass ich viel der besten Eigenschaften meiner Mutter geerbt habe, aber auch einige ihrer schlechtesten. Ich bin meiner Mutter Sohn.

Lillian spukte in meinem Leben herum, als sie noch am Leben war und sie hat mich weiter verfolgt seit ihrem Tod im Juli 2015. Und sie hat mich in nervenaufreibender Art verfolgt, seit ich mein Erinnerungsbuch vor einem Monat veröffentlichte. Sie verfolgte mich von Stadt zu Stadt während meiner Lesereise.

An drei Abenden hintereinander in drei verschiedenen Städten, gingen Polizei- und Krankenwagensirenen los, als ich die Geschichte von dem Moment erzählte, als ich vom Tod meiner Mutter erfuhr.

In einer anderen Stadt, in einem Hotel, dessen Inneneinrichtungsstil man am besten als Dracula-IKEA beschreiben kann, verließ ich den Aufzug, nur um einen handgemachten Quilt an der Wand hängen zu sehen. Warum hing ein derart merkwürdiges Stück amerikanischer Volkskunst in einem Schickimicki-Hotel? Jedesmal, wenn ich an diesem Quilt vorbeiging, sagte ich: „Hallo, Mama.“

Letzten Abend, als ich von Seattle nach Hause kam, verließ ich das Flugzeug und begegnete jemandem vom Flughafendienstpersonal mit einem Rollstuhl für einen meiner Mitreisenden. Er hielt ein Schild hoch, mit einem allzu bekannten Namen – eine Name der mich zum Lachen brachte. Der Abholdienst wartete auf jemanden, der Lillian hieß.

Wie ich in meinem Erinnerungsbuch schon festhielt: Ich glaube nicht an Gespenster, aber ich sehe sie überall. Wie ich ebenfalls in meinem Erinnerungsbuch geschrieben habe, glaube ich auch nicht an Zauberei, aber ich glaube daran, dass man Koinzidenzen genau so interpretieren kann, wie man will. Ich glaube nicht an das Leben nach dem Tod als eine Realität, aber ich glaube an ein Leben nach dem Tod als Metapher. Meine Mutter tritt mir bildhaft gesprochen aus dem Jenseits in den Hintern.

Vor zwei Wochen, während einer akademischen Veranstaltung, sprach ich mit einem Mann aus einem fremden Land. Im dichtgedrängten Veranstaltungsraum ging es laut und lebhaft zu. Wir mussten lauter als gewöhnlich sprechen, um uns verständlich zu machen.

Sherman Alexie 2007 (Foto: Larry D. Moore) Laut erzählte ich ihm von meinem Erinnerungsbuch. Laut erzählte ich von meinem Stamm. Lautstark erzählte ich von meiner Mutter. Laut erzählte ich davon, dass sie ein Geist sei, der mich verfolgt. Und plötzlich brachen die Unterhaltungen im Raum ab. Die Stille trat unmittelbar und für alle überraschend ein. Dreißig Fremden war diese peinlich eingetretene Stille unmittelbar bewusst. Dreißig Fremde lachten dann darüber.

„Sherman, in meiner Kultur spricht man, wenn dieses Schweigen eintritt, davon, dass Gott gerade vorbeigegangen ist“, sagte der Mann aus diesem anderen Land.
„Das ist sehr schön“, meinte ich.
Der Mann sprach von seinem Volk. Dann fragte er mich nach meinem Stamm: „Sherman, der Name deines Stammes lautet Spokane, was bedeutet er?“
Ich sagte: „Er bedeutet Kinder der Sonne.“
In diesem Augenblick, teilten sich die grauen Sommerwolken und ein Sonnenstrahl leuchtete durch ein kleines Fenster und strahlte mich an. Ich musste die Augen zukneifen. Mein neuer Freund jedoch, der Mann aus diesem anderen Land, blickte ins Licht und sagte: “Nun ja, Sherman, ich glaube deine Mutter ist soeben angekommen. Schön sie zu treffen.“
Ich lachte. Aber mir war zum Heulen. Ich weinte später an diesem Abend. Ich weinte während der Lesetour mehrmals täglich, im Stillen und auf offener Bühne. Abend für Abend brach mir das Herz. Pathologisch gesprochen: Ich habe mich re-traumatisiert.

Letzte Woche erwischte mich eine fürchterliche Erkältung und ich musste Veranstaltungen in Tulsa und Missoula absagen. Aber ich erlitt auch eine Depression. Mit Arzneimitteln gelang mir die Heilung von meiner Erkältung, aber meine Traurigkeit, meine komplizierte Trauer, war damit nicht zu behandeln. Ich weinte und weinte, dann nahm ich wieder ein Flugzeug und setzte meine Lesereise fort. Aber dann, im fünfzehnten oder zwanzigsten Hotelzimmer in diesem Sommer, hatte ich einen Traum.

In diesem Traum spielte ich im Film „Smoke Signals“ mit und wurde zu Victor Joseph, der durch die Nacht rennt, um eine verletzte Frau nach einem Autounfall zu retten. Ich rannte durch die Wüstennacht. Ich lief durch Feuer und die Erinnerung an ein Feuer. Ich rannte bis meine Füße bluteten. Ich rannte bis zum Morgengrauen. Ich rannte bis ich vor Erschöpfung auf der Straße zusammenbrach.

Im echten Film streckt sich der zusammengebrochene Victor Joseph nach einer Erscheinung seines toten Vaters aus, der aber nur eine Halluzination ist, denn in Wahrheit greift er nach einem Straßenbauarbeiter am Highway. In meinem Traum bin ich derjenige, der auf der Straße niedergesunken ist. Auch ich strecke mich nach der Erscheinung meiner verstorbenen Mutter. Aber auch sie ist eine Straßenbauarbeiterin und sie hält ein Schild in die Höhe, auf dem steht STOP.

Ich denke, die Bedeutung dieses Traums ist offensichtlich. Er bedeutet, dass ich diese Lesetour beenden soll. (…)

Als ich meiner Frau Diane von dem Geist meiner Mutter und meinen Absichten erzählte, die vielen Termine der Lesereise abzusagen, sagte sie: „Vielleicht ist es deine Mutter, die sich vom Himmel aus für dich sorgt.“
„Vielleicht.“ meinte ich.
„Aber ich denke eher, dass es dein Unterbewusstsein ist, dass sich um den anderen Teil deiner selbst kümmert. Mir scheint, dass es wahrscheinlich eher du selbst bist, der sich eine gute Mutter ist, der sich mütterlich besorgt um dich zeigt.“

Da stehe ich nun also – Sohn und Mutter zugleich – , der einen großen Schritt zur Seite treten und seine Trauer in Zurückgezogenheit durchleben muss. Mein Erinnerungsbuch gibt es ja dennoch zu lesen. Und sobald ich wieder stark genug bin, werde ich auch wieder reisen. Und ich werde zu diesem Erinnerungsbuch zurückkehren. Dann, da bin ich mir sicher, werde ich auch neue Geschichten über meine Mutter und ihren Geist zu erzählen haben. Es wird mehr Geschichten über Trauer geben und auch über Vergebung.

Sherman Alexie, „You Don’t Have to Say You Love Me“ ist im Verlag Little and Brown erschienen, umfasst 457 Seiten und kostet als gebundene Ausgabe 28,00 US$.

Erstellt von dionys. Letzte Änderung: Mittwoch, 29. Januar 2020 13:59:56 CET von admin. (Version 6)

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