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Kanadische Öffentlichkeitsarbeit mit diplomatischem Holz(h)a(m)mer

Joseph Boyden (Photo: S. Beeley) Zur Internationalen Frühjahrsbuchwoche München 2008 Gastland Kanada
von Dionys Zink
(veröffentlicht 1/2008)

Joseph Boyden ist der Verfasser des Romans „Der lange Weg“ (engl. „The Three Day Road“, erschienen 2005), der einerseits vom Schicksal zweier Cree-Indianer handelt, die in den Grabenkrieg des 1. Weltkriegs geraten und andererseits die Heimkehr eines der beiden Cree aus dem Krieg beschreibt. Auch wenn im COYOTE zu diesem ins Deutsche übersetzten Roman gleich zwei Rezensionen erschienen sind (vgl. Coyote 2/2006) macht sich die Redaktion die Mühe, Joseph Boyden bei einer Autorenlesung im Gasteig in Augenschein zu nehmen.

Höflich fragt man vorher bei der veranstaltenden Organisation an, ob der Autor nach der Lesung zu einem Gespräch oder Interview zur Verfügung stehen würde. Aus deren Sicht spricht nichts dagegen. Man stellt sich auf einen interessanten Abend ein.

Erster Anlauf
Die Lesung am 3. März ist ungewöhnlich: Joseph Boyden stellt sich als sympathischer und bescheidener Schriftsteller heraus, der mit kluger Textauswahl seinen Roman „Der lange Weg“ so vorstellt, dass die Zuhörer genau die richtigen Eindrücke im richtigen Umfang wahrnehmen, um dann mehr lesen zu wollen. Vorsichtigerweise haben Veranstalter und Verlag dafür gesorgt, dass die Romanausschnitte auch in deutscher Sprache vorgetragen werden. Der Schauspieler Gottfried John, u.a. bekannt durch zahlreiche Fernsehauftritte und seine Rolle als russischer Offizier in einem James-Bond-Film, beeindruckt mit einer wunderbaren Lesestimme und vermittelt einmal mehr die Tatsache, dass in Film und Fernsehen einfach zu viel auch an stimmlicher Präsenz verloren geht.

Ungewöhnlich ist aber auch die Kürze der Lesung, die mit dem üblichen Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Moderator (ein Vertreter des Knaus-Verlag), Publikum und Autor endet. Respektvoll lässt sich der COYOTE-Berichterstatter sein Exemplar des Romans signieren und bei dieser Gelegenheit sucht man das Gespräch mit dem Autor. Leider kann er sich die Zeit für ein Interview nicht nehmen, bedeutet uns eine der resoluten Begleiterinnen des Autors, er sei zu einem privaten Abendessen eingeladen. Man will nicht unhöflich sein und fragt nach einer weiteren Möglichkeit zum Gespräch. Ja, wird man beschieden, das sei möglich, nach der Lesung am folgenden Tag, die in einer der Zweigstellen der Stadtbibliothek, in Moosach nämlich, stattfinden würde.

Zweiter Anlauf
Unverdrossen macht man sich am nächsten Tag auf den Weg nach Moosach. Dort ist bei Eintreffen des Verfassers dieses Artikels die eigentliche Lesung bereits beendet. Platz findet sich nur relativ weit vorne, am rechten Rand des eher spärlich anwesenden Publikums. Die Fragen des Publikums entsprechen dem üblichen Spektrum „Kanada und die Indianer“. Die Rede ist zum Beispiel von den Bedingungen und Auswirkungen der früheren kanadischen Zwangsbeschulung im Reservatsschulsystem. Heute, so Joseph Boyden, seien die Bedingungen für indianische Kinder wesentlich besser. Dem wird nicht widersprochen, als sich der Urheber dieser Zeilen zu Wort meldet und darauf hinweist, dass Kanada in den Bildungsstatistiken a la PISA zwar regelmäßig die Nase vorn habe, Indianer aber nicht Teil dieser Statistiken seien.

Da reagiert eine resolute Dame, die sich als Repräsentantin Kanadas vorstellt, und verlangt Auskunft, wer diese Behauptung aufstelle und woher diese Information stamme. Bereitwillig gibt man sich als AGIM-Mitglied zu erkennen und verweist auf die offiziellen Statistiken der kanadischen Regierung. (Siehe nebenstehender Kasten)

Noch immer in der Meinung, man habe die Möglichkeit des Gesprächs mit dem Autor Joseph Boyden, wartet man nach dem Ende der Lesung, wohin sich der Schriftsteller wenden wird. Es stellt sich heraus, dass es sich um seinen letzten Abend in Deutschland handelt. Er wird am folgenden Tag nach Marseille weiterreisen. Wegen des frühen Flugs und der möglichen Streiks auch am Flughafen München, soll die Abreise aus München praktisch mitten in der Nacht vonstatten gehen.
Joseph Boyden sieht aber dennoch die Möglichkeit zum Interview. Eine der resoluten Damen erklärt, dass man geplant habe, das Abendessen in einem Lokal namens Café Stör einzunehmen, ob man wisse, wo das sei. Das wisse man nicht, man sei ja nicht aus München, aber man könne dem Wagen mit dem Dichter folgen.

Dritter Anlauf
Vor der Zweigstelle der Stadtbibliothek entschwindet der Interviewpartner, flankiert von resoluten Damen, in einer großkalibrigen, dunklen Limousine, wie sie von diplomatischen Vertretungen gern geschätzt werden. Immerhin kennzeichnet ein Schild oder Aufkleber das Fahrzeug als mobilen Bestandteil der „Internationalen Frühjahrsbuchwoche mit Gastland Kanada“. Der Fahrstil des Chauffeurs entspricht dem, was üblicherweise von diplomatischen Vertretungen geschätzt wird. Als Fahrer eines bescheidenen Kleinwagens hat man also seine liebe Not zu folgen. Nur gut, dass man eine charmante Kanadierin, die sich in München auskennt, als Beifahrerin mitnehmen darf. Und so erreicht man glücklich und im angeregten Gespräch mit der Beifahrerin das Restaurant Café Stör beim Müllerschen Volksbad, schräg gegenüber vom Deutschen Museum. Vor dem Restaurant steht dann der Schriftsteller, in Begleitung besagter resoluter Damen, man wartet auf etwas, raucht. Dann kommt wieder Bewegung auf: Das Abendessen fände doch nicht hier statt, heißt es plötzlich, sondern im „Literaturhaus“, ob man wisse, wo das sei. Das wisse man nicht, man sei ja nicht aus München, aber man könne dem Wagen mit dem Dichter folgen. Seltsam ist das…

Vierter Anlauf
Der Verfasser folgt also dem von Diplomaten so geschätzten zackigen Chauffeur durch den Münchener Abendverkehr. An einer gelben Ampel beschleunigt der Wagen, bremst kurz ab, als wollte der Fahrer doch warten, beschleunigt aber plötzlich und gerät dann außer Sicht. Der Fahrer des nachfolgenden Kleinwagens sieht sich an einer roten Ampel gezwungen, einen behördlichen Phototermin wahrzunehmen, um seine Glaubwürdigkeit („nicht aus München“) zu wahren.

Nur wenige Sekunden nach der dunklen Limousine erreicht man das Literaturhaus. So was aber auch…

Auf der Galerie des Restaurant im Literaturhaus wird man Zeuge einer unter diesen Umständen befremdlichen Szene: Während man bisher davon ausgegangen ist, dass der Schriftsteller und seine Begleiterin sowie die unvermeidlichen resoluten Damen ein gemeinsames Abendessen einnehmen werden, sieht man hier jetzt alle an der Veranstaltungsreihe beteiligten kanadischen Autoren samt jeweiliger Entourage versammelt. Es handelt sich offensichtlich um eine eher geschlossene Gesellschaft. Die resoluten Damen gingen davon aus, dass man sich anderswo treffe? Die resoluten Damen wussten vorher nicht, dass im Literaturhaus ein Tisch für 30 Personen reserviert war? Merkwürdig…

Glücklicherweise ergibt sich die Möglichkeit zu einem kurzen Gespräch mit dem Schriftsteller Rudy Wiebe aus Edmonton, der sich schon mehrfach um die Vermittlung kanadischer Literatur in Deutschland und deutscher Literatur in Kanada verdient gemacht hat. So lässt sich die Situation erst einmal sondieren, bevor man sich einen Platz am Rand sucht. Und siehe da: Der Platz links vom Schriftsteller ist auch nach längerem Warten noch frei. Bei einem Weißbier dauert es nicht lange, bis man in ein angeregtes Gespräch vertieft ist, wobei der Verfasser Wert darauf legt, Joseph Boyden zu vermitteln, dass die Redaktion des COYOTE über einschlägige Erfahrungen zu Literatur, Indianern in Kanada und einer Reihe weiterer Themen verfügt.

Im Gegenzug erfährt man, dass Joseph Boyden an einer Art Fortsetzung seines Romans arbeitet, die in der Gegenwart spielen soll und in deren Mittelpunkt die Nachfahren seiner Romanhelden stehen sollen. Einzelheiten sollen aber noch nicht verraten werden. Doch so viel ist bereits klar: Der Roman soll 2009 auch in deutscher Sprache erscheinen. Man darf gespannt sein.

Joseph Boyden lebt in New Orleans und da wird man natürlich neugierig, wie er 2005 den Hurrikan Kathrina überstanden hat. Wie viele Angehörige der Mittelschicht hat er die Stadt für längere Zeiträume verlassen.

An dieser Stelle wird das Gespräch von der resoluten Dame, die von anderen als „Astrid“ angesprochen wird, rüde unterbrochen. Man solle den Schriftsteller nicht so in Beschlag nehmen, schließlich säßen ja noch mehr Leute am Tisch. Man dürfe einen der bedeutendsten Schriftsteller Kanadas nicht seinem Publikum entziehen. Der Verfasser habe sich ja nicht einmal vorgestellt usw.

Dergestalt in Verlegenheit gebracht, zieht es Joseph Boyden vor, erst einmal seinen Frischluftbedarf vor dem Restaurant zu decken.

Man erklärt unterdessen Frau „Astrid“, dass man sich sehr wohl als Mitglied von AGIM vorgestellt habe, dass man mit dem Autor bereits am Vortag habe sprechen wollen, dass dies aber nicht möglich gewesen sei, dass man ebenfalls zum Publikum gehöre, dass es ihr ja freistünde, sich ins Gespräch zu mischen usw.

Rauswurf 1. Klasse
Frau „Astrid“ erklärt daraufhin, dass AGIM ihr bekannt sei und dass sie etwas dagegen habe, wenn ein AGIM-Vertreter mit Joseph Boyden spreche. Kurz darauf kehrt der Schriftsteller zurück. Man entschuldigt sich bei ihm dafür, dass man ihn in die Position zwischen den Stühlen gebracht habe und stellt fest, dass die Ursache in politischen Differenzen zwischen AGIM und der kanadischen Diplomatie zu sehen sei. Eine weitere Dame von der ausrichtenden Veranstaltungsorganisation mischt sich ein und versucht zu vermitteln. Der Verfasser rekapituliert ihr gegenüber das Geschehen noch einmal, trinkt sein Weißbier aus und … geht.

Offensichtlich schwebte der kanadischen Repräsentantin „Astrid“ vor, Kanada ausschließlich positiv darzustellen, statt als ein Land, das in bestimmten Bereichen erhebliche Defizite aufweist. Nun ist das ja wohl das gute Recht einer Regierung, niemand erwartet schließlich, dass sie sich selbst eines Versagens bezichtigt. Typisch für die Reaktion der kanadischen Offiziellen ist der Verweis auf die guten Sitten. Mehrfach wurde der Vorwurf erhoben, der Verfasser habe sich nicht vorgestellt, selbst stellte sich Frau „Astrid“ als nur als „Vertreterin Kanadas“ vor und entmündigt nebenbei den eigenen Gast, der das Recht auf die eigene Wahl seiner Gesprächspartner hat.

Man kann sich des Eindrucks aber nicht erwehren, dass hier eine kritische Auseinandersetzung mit der kanadischen Gegenwart verhindert werden sollte, indem der Zugang zu einem der bedeutendsten Schriftsteller Kanadas unterbunden wurde. Anscheinend stellte man sich eher so eine Art „embedded culture journalism“ oder Hofberichterstattung zu Kanada vor, wie sie gelegentlich auch den Weg in Münchens größte Tageszeitung findet. Was man damit allenfalls beweisen kann, ist die Tatsache, dass Medienkontrolle keine amerikanische oder chinesische Spezialität ist. Das ist sehr bedauerlich, schließlich ist die kulturelle Produktivität zur indianischen Gegenwart ein ausgesprochen positiver Aspekt der kanadischen Gesellschaft.

Die weitere Recherche ergab folgende Umstände: Die Internationale Frühjahrsbuchwoche mit dem Gastland Kanada wurde von der Kanadischen Botschaft, dem Canada Council for the Arts, Canadian Heritage und der Vertretung der Regierung von Quebec in Berlin freundlich unterstützt. Der interessante Reader zur Veranstaltungsreihe schließt unter anderem mit einer Dankadresse: „Besonders hervorgehoben sei Astrid H. Holzamer, Kulturreferentin bei der Botschaft von Kanada, die uns engagiert und unermüdlich mit Rat und Tat zur Seite stand.“

Die Veranstaltungsorganisation entschuldigte sich übrigens an den folgenden Tagen mehrfach bei der Redaktion des COYOTE für das Verhalten der Diplomatin. Diese Entschuldigung nehmen wir beruhigt zur Kenntnis und möchten dem nichts mehr hinzufügen.

Joseph Boydens Roman „Der Lange Weg“ erschien in der Übersetzung von Bettina Münch und Kathrin Razum im Albrecht Knaus Verlag in München, er umfasst in der gebundenen Ausgabe 448 Seiten und kostet 19,95 €. Die Taschenbuchausgabe ist in Vorbereitung und erscheint im Mai 2008.

Traue keiner Statistik …


In der Tat erscheinen Statistiken in Kanada unter Ausschluss der Daten zu Ureinwohnern. Das hat zum Teil auch historische Gründe. Man betrachtete Indianer früher nicht im eigentlichen Sinn als Kanadier, zumal alle sie betreffenden Vorgänge über das Ministerium für indianische Angelegenheiten bearbeitet werden. Auf dessen Website findet man auch statistische Angaben zum Thema Bildung und Indianer.

Während Kanada etwa bei der OECD-Ermittlung des Lebensstandards oder bei den PISA-Studien regelmäßig auf den vordersten Plätzen landet, erreichen die Ureinwohner des Landes beim Lebensstandard einen Wert, der Rang 48 entspricht, was in etwa der Position Thailands nahe kommt. Informationen über die Bildungserfolge der kanadischen Indianer beziehen sich nahezu ausschließlich auf Schüler, die ihre Schullaufbahn außerhalb der Reservate verfolgen. Verlässliche Aussagen über die für die bekannten PISA-Studien relevante Altersgruppe sind nicht erhältlich, teilweise auch deshalb, weil viele indianische Jugendliche in dieser Altersgruppe bereits das Schulsystem ohne Abschluss verlassen haben.

Eine Recherche zum Thema Schule und Indianer auf den offiziellen Seiten der kanadischen Regierung
ergab folgendes Bild: Im Jahr 2001 schlossen nur 41,4% aller 15-jährigen Ureinwohner die High School ab, während die anderen Kanadier dieser Altersgruppe zu 68,7% erfolgreich waren. (www.ainc-inac.gc.ca, diese Angaben vom Oktober 2006). Ein knappes Drittel aller Indianer verfügt über eine Schulausbildung von weniger als neun Schuljahren. Dabei ist zweierlei zu beachten: Die enorme Ausdehnung des kanadisch kontrollierten Gebiets und die Abgelegenheit der Ureinwohner-Siedlungen stellen ein großes Hindernis im Betrieb des Bildungssystems dar. Zugleich verbessern sich die Bildungschancen der Ureinwohner dennoch stetig. Bei den Steigerungsraten bezüglich der Schulabschlüsse übertreffen die Ureinwohner den kanadischen Durchschnitt. Zwischen 1996 und 2006 nahm die Bevölkerung der Ureinwohner Kanadas um 45% zu. Im Vergleich dazu wuchs die gesamtkanadische Bevölkerung „nur“ um 8%. Während die kanadische Gesellschaft europäischen Ursprungs ähnlich wie die Verwandtschaft diesseits des Atlantiks altert, stellen die Ureinwohner einen besonders hohen Anteil der jungen Bevölkerung.

Der Einwand Kanadas Regierungen lieferten zum Beispiel für die PISA-Studien nur gesäubertes Datenmaterial ist dennoch berechtigt. Auf den Seiten von Statistics Canada, dem Äqivalent zum deutschen Statistischen Bundesamt, finden sich zu PISA 2006 mehrere interessante Aussagen. Insgesamt haben 22 000 kanadische Schüler in etwa tausend Schulen an der Studie 2006 teilgenommen. Zum einen wird stolz verkündet, dass Kanada bei den Tests zur Lesefähigkeit den dritten Rang im Vergleich mit allen beteiligten Staaten erreicht habe. Zum anderen wird auch die Tatsache angesprochen, dass die Herkunft, anders als in anderen OECD-Staaten keine signifikante Rolle bei den Ergebnissen gespielt habe. In der Fußnote heißt es dann verschämt „No data were collected in the three territories and on First Nations schools” – also: „Keine Daten wurden in den drei Territorien“, gemeint sind Yukon, Northwest und Nunavut, „und in Reservatsschulen erhoben“. (zit. nach: Measuring up: Canadian results of the OECD PISA-Study – The performance of Canada’s Youth in Science, reading and Mathematics – PISA 2006 First results for Canadians aged 15)

Muss noch betont werden, dass damit ein Großteil der indigenen Schüler von den kanadischen Bildungsstatistiken nicht erfasst wird, weil sie im PISA-Alter entweder gar nicht mehr zur Schule gehen, eine Reservatsschule besuchen oder in den nördlichen Territorien zu Hause sind? Man stelle sich vor die deutschen Statistiken würden um die Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund in deutschen Schulen bereinigt und man erklärte dann, dass zwischen sozialem bzw. ethnischem Hintergrund und Bildungserfolg in Deutschland kein Zusammenhang bestehe.
Erstellt von oliver. Letzte Änderung: Samstag, 21. März 2020 19:13:02 CET von oliver. (Version 4)