Vor Coopers Lederstrumpf, aber zwei Jahrhunderte später
gelesen von Dionys Zink
Joseph Boydens Romanerstling „Der lange Weg“ (2006) erregte seinerzeit Aufsehen auch in Deutschland, nicht zuletzt deswegen, weil sich die Handlung im Wesentlichen vor dem Hintergrund der erstarrten Schützengrabenfronten des Ersten Weltkrieges abspielte. Vier Jahre später wurde der zweite Roman des kanadisch-indianischen Autors auf Deutsch veröffentlicht, der eine Art Thriller in der indianischen Realität von heute darstellt. Dem Leser, der beide Romane kennt, ist vor allem der überraschende Schluss von „Durch dunkle Wälder“ erinnerlich, der unvermittelt einen Zusammenhang mit „Der lange Weg“ andeutet.
Mit seinem dritten Erzählwerk „The Orenda“ wendet sich Boyden einem weniger bekannten Kapitel der indianischen Geschichte Ostkanadas zu, den Auseinandersetzungen zwischen der Irokesenföderation und ihren eng verwandten Nachbarn, den Huronen, ein Volk das ebenfalls zur irokesischen Sprachfamilie gehört und sich in ihrer materiellen Kultur kaum von ihren Nachbarn unterschied. In Boydens Erzählung geht es zunächst um die Fernwirkungen des Pelzhandels, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts vor allem von französischen Kolonisatoren entlang des St. Lawrence River ins Kontinentinnere betrieben wurde. Die bevorzugten Mittelsmänner dieser ersten Phase des Pelzhandels waren die Huronen und ihre westlichen Nachbarn, vor allem Algonquinsprachige Nationen, wie die Ottawa oder auch die Anishinabe (Ojibway) an den Großen Seen. Für die Wyandotts oder Wendats, wie andere Bezeichnungen für die Huronen lauten, war der Handel mit den Franzosen äußerst lukrativ. Die Huronen hatten aus ihrem ursprünglichen Herkunftsgebiet weiter im Süden des Kontinents die Mischkultur von Mais, Squash und Bohnen in den Nordosten Nordamerikas gebracht und pflegten schon vor der Ankunft der Europäer rege Tauschhandelsbeziehungen mit nördlichen Nachbarn, die aus klimatischen Gründen keinen Ackerbau betreiben konnten. Im Kontakt mit den Kolonisatoren des Territoriums, das schließlich als Neufrankreich bezeichnet wurde, verfügten sie rasch über begehrte Waren aus europäischer Produktion, z.B. Metalltöpfe, Werkzeuge und bunte Stoffe.
n der Folge des Handels blühten die Langhaussiedlungen an den eifersüchtig kontrollierten Kanurouten zu den Kolonien in Montreal und Quebec auf. Manche dieser Huronen-Ortschaften sollen mehrere tausend Einwohner erreicht haben und übertrafen im 17. Jahrhundert in der Größe die ersten städtischen Niederlassungen der Holländer, Engländer und Franzosen bei weitem.
Eine weitere Komponente des Kolonialisierungsprozesses waren die Missionsbemühungen der französischen Jesuiten, die mit der Gründung eigener Niederlassungen auch weit abseits der von den Händlern aufgesuchten Gebiete versuchten.
Boydens akribische historisch-ethnologische Recherche ermöglicht es ihm, Alltagsleben und Sozialstruktur in einem großen Langhausdorf darzustellen. Anrührend und beeindruckend zugleich sind seine Schilderungen des Ahnenkults dieser Indianer. Wenn eine Huronengruppe ihren Siedlungsplatz verlegte, wurden auch die Gebeine der Verwandten und Vorfahren umgezogen und in einer neuen Nekropole aufwändig ein weiteres Mal bestattet.
Mit dieser weitentwickelten Kultur ging es bergab, als europäische Infektionskrankheiten die Huronen entscheidend schwächten und die Irokesen, ihre Verwandten und schärfsten Konkurrenten, zur Offensive schritten, um die Handelsströme zu ihren Gunsten umzulenken.
Boyden erzählt von diesem frühen Wendepunkt in der Kolonialgeschichte Nordamerikas am Beispiel eines Huronenhäuptlings, der nach der Tötung seiner Familie ein irokesisches Mädchen raubt und sich allmählich mit den neuen Gegebenheiten abfinden muss. Mit der dritten Hauptfigur, einem französischen Jesuitenpater ergibt sich ein multiperspektivisches Panorama, das in vielerlei Hinsicht an die Erzählstrategien von Louise Erdrich erinnert.
Mit diesem dritten großen Roman John Boydens werden die Umrisse von etwas deutlich, was sich zu einem großen Ganzen, einer erzählten Geschichte der Indianer des östlichen Kanadas seit Eintreffen der Weißen auswachsen könnte: Die beiden Helden seines Weltkriegsromans von 2006 heißen mit Familiennamen Bird. Der Überlebende Cree-Indianer vererbt eines der deutschen Scharfschützengewehre an einen der Protagonisten des zweiten Romans. Der Huronenhäuptling des dritten Romans trägt den Namen Bird.
Joseph Boyden, The Orenda, 435 S. ist in einer gebundenen Ausgabe bei Alfred A. Knopf in New York erschienen. Ein deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung.