Im Spannungsfeld zwischen indianischer Tradition und Postmoderne
gelesen von Dionys Zink
(veröffentlicht 4/2010)
Mit „Durch dunkle Wälder“ legt Joseph Boyden seinen zweiten Roman vor und beweist eindrücklich, dass sein Erstling „Der lange Weg“ (siehe Coyote 1/2008) keine Eintagsfliege war. Bereits auf der ersten Lesereise durch Europa, bei der Boyden im März 2008 auch in München Station machte, erklärte der Autor an „einer Art Fortsetzung“ seines ersten Romans zu arbeiten. „Durch dunkle Wälder“ löst dieses Versprechen auf eine gewisse Art ein, auch wenn dieser Roman eine eigenständige Geschichte der Gegenwart erzählt.
Da ist zunächst einmal die Erzählerin Annie, die ihren Onkel Will Bird besucht, der nach einem brutalen Überfall wochenlang im Koma liegt. Von einer befreundeten Krankenschwester angeregt, beginnt sie ihrem Onkel von ihrer Vergangenheit als Model zu erzählen, obwohl ihr Verwandter diese Erzählung nicht hören kann. Der zweite Erzählstrang befasst sich mit den Hintergrundereignissen dieser Vergangenheit der jungen Indianerin, jedoch aus der Sicht des alkoholkranken Will im Koma.
Will Bird ist der Enkel jenes Cree-Indianers Xavier Bird, der in „Der lange Weg“ als morphiumabhängiger und kriegsversehrter Scharfschütze aus Europa zurückkehrt, mit nur wenig mehr als seinem von den Deutschen erbeuteten Mauser-Gewehr. Unversehens gerät der ehemalige Buschpilot Will in Konflikt mit der Drogenmafia von Moosonee, welche insbesondere die Cree-Indianer terrorisiert. Will wird vom lokalen Drogenboss Marius Whiskeyjack drangsaliert, weil dieser herausfinden möchte, was mit seinem jüngeren Bruder geschehen ist, der verschwunden ist und mit Wills Nichte Suzanne in Verbindung gestanden hat.
In einem Racheakt versucht Will Bird Marius aus dem Hinterhalt zu erschießen und flieht anschließend mit einem alten klapprigen Flugzeug in die Wildnis. Ein Sturm und der Überfall eines Eisbären zwingen ihn aber nach mehreren Monaten zur Einsicht, dass er dem traditionellen Leben der Cree im Busch nicht mehr gewachsen ist. Er kehrt nach Moosonee zurück und stellt fest, dass sein Anschlag misslungen ist: Marius lebt, kann aber nicht beweisen, wer der Täter war.
Suzanne, die andere der beiden Nichten Wills, wird als Model entdeckt und verschwindet nach einer steilen Karriere spurlos in den USA. Ihre Schwester Annie begibt sich nach Toronto um das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären, die in der kanadischen Großstadt ihre Arbeit als Model begonnen hat. Sie gerät in zwielichtige Kreise, die ihr ebenfalls eine Karriere als Fotomodell versprechen. Als sie schließlich in der glamourösen und drogenverseuchten New Yorker Szene herausfindet, was ihrer Schwester widerfahren und wie ihr Untertauchen zu erklären ist, droht ihr bald Gefahr. Mit der Unterstützung eines taubstummen Stadtindianers gelingt es ihr, den Handlangern der Drogenszene zu entkommen und sich in ihrer Heimat an der südlichen James Bay zu verstecken.
Weil die Drogenhändler jedoch vermuten, dass Annies Schwester Suzanne mit dem veruntreuten Geld eines großen Drogengeschäfts ebenfalls dort untergetaucht ist, kommt es zum Showdown in Moosonee, in dem das deutsche Gewehr des Großvaters eine entscheidende Rolle spielt.
Nach und nach erfährt der Leser von den Hintergründen der verschlungenen Handlung, die ihre Wurzeln tatsächlich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat. So ergibt sich ein Spiel mit mehreren Handlungs- und Schicksalsebenen, das sich erst ganz am Schluss mit einer überraschenden Wendung auflöst.
Mit dem Eigenleben des Gewehrs wendet sich Boyden einem Topos zu, der auch in anderen Romanen indianischer Thematik eine Rolle spielt. Winona LaDukes Roman „Last Standing Woman“ beispielsweise erzählt von einem Gewehr, das Widerstandsaktionen der Indianer in den USA und Kanada begleitet, fast wie ein Versprechen, dass die Geschichte des indianischen Widerstands noch nicht an ihrem Endpunkt angekommen ist.
Manches in Boydens Erzähltechnik erinnert an die multiperspektivischen Romane Louise Erdrichs, die ihre Geschichten wie Mosaike ebenfalls immer wieder aus den Sichtweisen verschiedener Figuren entwickelt. Man kann sich vorstellen, dass diese Art zu erzählen den tatsächlichen Verhältnissen in Indianerreservationen und –gemeinden recht nahe kommt. Außenstehende erwischen immer nur ein Stück oder einen persönlich gefärbten Ausschnitt eines größeren Zusammenhangs, der sich erst nach und nach zu einer gewebeartigen Erzählung verdichtet.
Das eigentliche Thema dieses hochspannenden Romans ist jedoch der Gegensatz zwischen der weißen Zivilisation und der Lebenswelt heutiger Cree-Indianer, zwischen dem Versuch einer traditionellen Existenz und der Scheinwelt der Medien und ihren Inszenierungen. Boydens und konsequenterweise die Sympathie des Lesers liegen dabei eindeutig auf der Seite der Indianer, doch vermeidet es die Erzählung einen allzu starren Schematismus zu pflegen, wie er noch die Diskussion der indianischen Gegenwart der 90er Jahre beherrschte. „Durch dunkle Wälder“ könnte auch einen spannenden Kino-Thriller ergeben. Vielleicht demnächst?
Joseph Boydens Durch dunkle Wälder ist wie sein ebenfalls lesenswerter Vorgänger im Knaus-Verlag erschienen, umfasst 446 Seiten und kostet 22,99 Euro.