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Mari Boine: Interview

Mari Boine vor ihrem Konzert in München (Foto AGIM 2003) Mari Boine, der Dalai Lama und wir
Interview von Dionys Zink.

Selten befand sich ein Informationsstand der Aktionsgruppe Indianer und Menschenrechte in einer derart widersprüchlichen Situation. Eingeladen unsere Organisation, ihre Aktivitäten und Ziele am 1.6. 2003 am Rand einer Großveranstaltung mit dem Dalai Lama in der Münchener Olympiahalle zu präsentieren, war AGIM neben den politischen Unterstützungsgruppen der „Free Tibet“-Szene die einzige Organisation, deren vorrangiger Zweck nicht der Umsatz von Räucherstäbchen, Dritte-Welt-Schnickschnack ungewisser Herkunft und esoterischer Weisheit auf Kassette und Video war.

Dem genauen Zuhörer und Beobachter des Dalai Lama Auftritts musste vor allem eines auffallen: Das eklatante Missverhältnis zwischen den wohl bewusst einfach gehaltenen Mitteilungen des geistlichen Oberhaupts der Tibeter und der Menschenmasse drumherum, die sich offensichtlich mit großer religiöser Hingabe ihren Projektionen in Bezug auf den Dalai Lama widmete. In der vom Publikum erzeugten Aura von religiöser Inbrunst und Heilserwartung wurde weder das Elend Tibets unter der chinesischen Besatzung wirklich thematisiert, noch leiteten die Zuschauer aus den Darlegungen des Dalai Lama mehr ab, als nur Rezepte für das eigene Wohlbefinden. Hier wurde spirituelle Armut und Enttäuschung über die Sinnangebote der westlichen Welt zur massenhaften Demonstration privater Glücksideologie.

Für den Coyote war es jedenfalls Zeit sich nach anderem umzusehen. Nach der umjubelten „Dalai Lama“-Gala, moderiert von Nina Ruge, traten fünf Frauen mit ihrer Weltmusik in der Olympiahalle auf, unter ihnen auch Mari Boine, eine Musikerin man hierzulande getrost als die Stimme der Sami bezeichnen kann. Mari Boine war mit ihren Begleitbands in den vergangenen Jahren regelmäßig Gast in München und fand vor ihrem Auftritt noch Zeit für ein Interview. Uns interessierten vor allem die Ähnlichkeiten zwischen den Sami und den nordamerikanischen Indianern.

Coyote: Gibt es noch eine intakte Sami-Kultur?
Boine: Nein, eine funktionierende Kultur der Sami gibt es nicht mehr, aber es hat doch einiges überlebt, z.B. Heilungspraktiken, Geschichten, das Joiksingen und Weisheit im Umgang mit der Natur. Wenn Sami heutzutage behaupten, sie würden zu Gott beten oder Jesus, dann geschieht das auf die gleiche traditionelle Weise wie früher.

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Coyote: Siehst du Parallen zwischen den Kulturen nordamerikanischer Indianer und den Sami?

Boine: Natürlich, z.B. bei Liedern oder den Zelten, die sich durchaus ähnlich sind.

Coyote: Die traditionelle Art der Sami zu singen ist der Joik. Ist Joiken noch eine lebendige Tradition?
Boine: In den Familien sicher. Aber in manchen Regionen ist die (protestantische) Kirche sehr mächtig. Ihre Priester sagten der Joik stamme vom Teufel. Lange Zeit war es verboten den Joik zu singen. Nur wenn die Leute betrunken waren, sangen sie einen Joik. Das war so eine Art Widerstandsreaktion . Wenn man betrunken war, befolgte man die Regeln nicht, weil sie einem egal waren. Bis vor zwanzig Jahren war der Joik verboten.

Coyote: Ist Joik auch bei den jungen Leuten in Skandinavien populär?
(Mari Boine lacht, und antwortet überzeugt und bestimmt)
Boine: Ja, Joik ist populär

Coyote: Gab es Kritik, als du begonnen hast Joik in einem modernen Kontext zu präsentieren?
Boine: Kritik gab es schon, viel früher zu Beginn der siebziger Jahre, als der Joik eine Wiederbelebung erfuhr.

Coyote: Sprechen die Kinder Sami noch ihre Muttersprache?
Boine: Viele sprechen noch Sami und die Situation verbessert sich allmählich, weil es jetzt Schulunterricht in Sami gibt, Fernsehprogramme und das Radio. Die Sami leiden heute weniger unter einem Minderwertigkeitskomplex als früher. Doch die Minderwertigkeitsgefühle sind Generationen alt und es wird noch lange dauern bis er verschwunden sein wird.

Trotzdem: Innerhalb der Sami-Gemeinschaften entwickelt sich eine ganze Menge, leider nicht im Verhältnis zu den Skandinaviern. Dafür gibt es heute eine Zusammenarbeit mit Völkern in Russland und Sibirien, die den Sami sehr ähnlich sind und auch noch über intakte Zeremonialsysteme und die dafür notwendigen Schamanen verfügen.

Coyote: Gibt es aktuelle Konflikte mit skandinavischen Nationalstaaten?
Boine: Derzeit gibt es in Norwegen Streitigkeiten wegen einer Bombing Range (Übungsgebiet für Bombenzielabwurf) im Norden. Heute haben wir zwar ein Sami-Parlament in Schweden, Norwegen und Finnland und andere Gremien, die unsere Interessen vertreten, dennoch können derartige Gesetze erlassen werden. An unserem Nationalfeiertag hatte ich einen Auftritt und ich musste einen meiner früheren Songs dem Ministerpräsidenten widmen: „Rezept für Kolonialismus“. Er findet sich auf meiner ersten CD. Ich musste den Text nur ganz wenig an die heutige Situation anpassen. Ich denke, dass sie das Gesetz über die Bombing Range genau nach diesem Rezept geschrieben haben. Mit uns wird doch nur gespielt.

Coyote: Man kann also von institutionalisierter Diskriminierung sprechen?
Boine: Natürlich gibt es die.

Coyote: Woran wird dieser Minderwertigkeitskomplex sichtbar?
Boine: Sami haben sich lange Zeit extrem angepasst und sind Auseinandersetzungen ausgewichen.

Ein Thema, über das die Sami nicht sprechen, sind z.B. die Rohstoffrechte im Norden. Es gibt beispielsweise Uranvorkommen im Norden. Auch die Frage der Erdöllagerstätten, die sich sehr nahe bei den von Sami bewohnten Gebieten befinden, ist ungeklärt. Sie wird aber nicht auf die Tagesordnung gesetzt, weil die Norweger in dieser Hinsicht sehr empfindlich reagieren. Ich finde, wir sollten an der Diskussion über Rohstoffe in unserem Land beteiligt sein.

Mari Boine 2006 (Foto: Marius Fiskum) Coyote: Ist der Traum vom Anspruch auf Sapmi, einem autonomen Sami-Gebiet, eine romantische Vorstellung oder eine echte politische Bewegung?
Boine: Ich denke, das ist Romantik. Die Sami haben sich immer angepasst und werden es weiterhin tun.

Coyote: In Deutschland galten die Sami lange als „Exoten des Nordens“. Touristen photographieren Sami in ihrer traditionellen Kleidung, wollen Rentierherden sehen und in die Sauna gehen. Stimmt dieses Klischeebild heute übverhaupt noch? Wollen die Sami überhaupt von Touristen besucht werden?
Boine: Heutzutage leben viele Sami in den Städten, doch noch immer gibt es viele, deren Lebensunterhalt in traditioneller Landnnutzung besteht, in Fischfang oder Rentierzucht. Immer handelt es sich um eine Mischung einer ganzen Reihe von traditionellen Wirtschaftselementen.

Die Sami waren immer geduldig mit Fremden und haben nichts gegen Besuch einzuwenden.
Früher, als ich noch ein Kind war, gab es mehr Probleme mit den Touristen. Die Busladungen wurden direkt vor unseren Häusern abgesetzt und die Fremden drangen völlig ungeniert in unser Privatleben ein. Das hat sich zum Besseren verändert.

Coyote: Wir bedanken uns für das Gespräch und freuen uns auf deinen Auftritt.

Mari Boines aktuelle CD „Eight Seasons“ ist im CD-Handel erhältlich.

Bei AGIM sind weitere Informationen und literarische Texte von Sami erhältlich. Die Textsammlung „Stimmen der Erde“ enthält einen Aufsatz des Sami-Politikers Pekka Aikio. Gedichte der Lyrikerin Marry Ailonieida Somby enthält die Anthologie „Words from the edge – Stimmen vom Rand“



Erstellt von dionys. Letzte Änderung: Montag, 27. September 2021 14:59:56 CEST von oliver. (Version 9)