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Die Martinez-Studie

Der Vorsitz der Working Group: Madame Daes und Julian Burger (Foto Oliver Kluge 1998) von Oliver Kluge

(veröffentlicht 3/1998)

Lange hat es gedauert, doch jetzt ist sie fertig, die »Study on treaties, agreements and other constructive arrangements between States and indigenous populations» von Professor Miguel Alfonso Martínez. Mehr als einmal haben einflußreiche Regierungen versucht, ihre Fertigstellung zu verhindern oder wenigstens hinauszuzögern.

Martínez ist Cubaner, und das reicht aus, um ihn in den Augen der US-Regierung suspekt erscheinen zu lassen. Immer wieder mußte er sich vorhalten lassen, die Ideologie seines Landes würde zu breiten Raum in seinen Untersuchungen einnehmen. Verzögerungen bei der Einreise in die USA waren noch die harmloseren »Nebenwirkungen».

Aufgrund der besonders großen Bedeutung dieser Studie berichtet Coyote dieses Mal im Rahmen der UNO-Reportage so gut wie ausschließlich über dieses Einzelereignis, es nahm in Genf auch bei weitem den größten Raum ein. Die ersten drei Teile legte Prof. Martínez bereits in den vorhergehenden Sitzungen der Working Group on Indigenous Peoples (WGIP) der UNO vor, doch mit Spannung wurde vor allem der große vierte Teil erwartet, in dem der »Special Rapporteur», wie bei der UNO Spezialisten mit Sonderauftrag genannt werden, seine Schlußfolgerungen und Empfehlungen darlegt.

Der riesige Sitzungssaal in Genf (Foto Oliver Kluge 1998) Vom 27. bis 31. Juli 1998 war die jüngste Sitzung der WGIP, und der letzte Teil der Treaty-Study wurde sofort zum domininaten Diskussionsthema. Obwohl noch gar nicht wirklich fertiggstellt (der Text von Martínez war fertig, aber noch nicht von den UNO-Bearbeitern auf grammatikalische und stilistische Richtigkeit geprüft, und auch noch nicht in die anderen offiziellen UNO-Sprachen übersetzt), wurde es dennoch zum offiziellen Konferenzraumpapier.

Ein interessantes Zitat von Prof. Martínez aus der Diskussion zeigt das Dilemma, in dem sich viele »Special Rapporteurs» derzeit befinden. Darauf angesprochen, weshalb es keine spanische Fassung des Textes gebe, meinte er »Es ist bezeichnend, daß ich als Spanisch-Sprecher meine Studie in der Sprache derer schreiben muß, die Schuld sind an dieser Situation.» Dies war darauf gemünzt, daß Englisch die Lingua Franca der UNO ist, und viele Dokumente eben zuerst auf Englisch erscheinen, es aber gerade die USA sind, welche die UNO in eine Finanzkrise nach der anderen stürzen - weil sie ihre Mitgliedsbeiträge permanent nicht bezahlen.

Im Verlaufe der Diskussion erkannten die Vertreter der indigenen Völker rasch, daß die Studie Dynamit pur darstellt. Jeder Aspekt wurde ausgiebig diskutiert. Da in der Sitzung der Working Group die Zeit zur Diskussion recht knapp bemessen war, wurde um so intensiver in ausgelagerten Diskussionsgruppen debattiert. Dabei kristallisierten sich einige Highlights, die sich recht versteckt im Text befinden, schnell heraus:

Hinter Oren Lyons, Haudenosaunee, wird der Wampum Belt hochgehalten (Foto Oliver Kluge 1998) Das Recht auf Selbstbestimmung: In Absatz 260 stellt Martínez klar, daß alle Völker dieser Erde dieses unabdingbare Recht haben. Er verweist auf den Artikel 1 der UN-Charta, und damit auf den wunden Punkt der UNO: Während die UNO eine Vereinigung von Nationen, nicht von Völkern ist (und damit nur Nationen das Sagen haben), spricht die Charta noch von »peoples», von Völkern. Wenn eine Gruppe also nachweisen kann, daß sie ein Volk darstellt, dann hat sie auch das Recht auf Selbstbestimmung… Das ist natürlich Sprengstoff für die Nationalstaaten, die hier ihre territoriale Integrität verletzt sehen.

Einstufung von Verträgen: In Absatz 275 beginnt die Studie die Erörterung der Frage, wie die Verträge einzustufen sind, welche die europäischen Eroberer mit den Ureinwohnern geschlossen haben. Die Schlußfolgerung von Professor Martínez ist, daß es sich glasklar um Verträge nach internationalem Recht handelt, die von den Regierungen von zwei souveränen Staaten geschlossen wurden. Die Folgen dieser Einschätzung sind gravierend: Indianer könnten - obwohl sie heute formaljuristisch amerikanische oder kanadische Staatsbürger sind - gegen die Regierung nicht nur bis zum höchsten nationalen Gericht klagen, sondern ihre Forderungen auch vor internationalen Gerichten durchsetzen.

Der epochemachende Satz: »The Special Rapporteur is of the opinion that said instruments indeed continue to maintain their original status, and to be fully in effect and consequently, are sources of rights and obligations for all the original parties to them (or their successors), who shall fulfill their provisions in good faith». Zu deutsch: »Der Sonderberichterstatter ist zu der Auffassung gelangt, daß besagte Instrumente in der Tat ihren ursprünglichen Status weiterhin besitzen, and vollständig in Kraft sind, woraus folgt, daß sie die Quelle von Rechten und Pflichten für alle ursprünglichen Vertragsparteien (oder deren Nachfolger) sind, die ihre Vereinbarung in Treu und Glauben erfüllen müssen».

Kenneth Deer vor der Mansphere, im Hintergrund der Völkerbundpalast (Foto Oliver Kluge 1998) Pikant ist dabei auch die Formulierung »… oder deren Nachfolger», denn dadurch sagt Martínez, daß beispielsweise Verträge der britischen oder spanischen Krone mit Ureinwohnern heute nicht mehr unbedingt mit eben dieser (ehemaligen) Kolonialmacht gelten, sondern mit den heutigen Nationalstaaten, in denen die Indigenen leben. Konkret: Ein Vertrag der Mohawk mit der britischen Krone ist heute als Vertrag mit Kanada gültig. Martínez geht dabei davon aus, daß die Vertragspartner die kolonisierenden Mächte waren, damals eben die europäischen, heute die überseeischen Regierungen, die aus den kolonialen Bestrebungen hervorgingen.

Gültigkeit der Verträge: Es gab immer wieder Versuche, insbesondere der USA, Verträge über ihre Gültigkeitsdauer auszuhebeln. Per Gesetz wurden selbst Verträge, in denen nicht erwähnt wurde, wie lange sie in Kraft bleiben sollten, aufgehoben. Es wurde einfach unterstellt, die Autoren der Vertragstexte hätten ein abstraktes Ablaufdatum im Kopf gehabt, das sie nur nicht aufgeschrieben hätten. Die Position von Martínez (277) ist eindeutig: Solches Vorgehen verstößt gegen internationales Recht. Verträge ohne Ablaufdatum bleiben so lange in Kraft, bis beide Parteien einvernehmlich beschließen, sie aufzuheben. Eine einzelne Partei (eine Regierung) kann niemals einseitig solche Verträge aufheben oder für kraftlos erklären. Dieser Rechtsgrundsatz wurde seit dem römischen Recht von niemandem angezweifelt.

Computer, das unentbehrliche Werkzeug - auch für Indigene (Foto Oliver Kluge 1998) Interpretation der Vertragstexte: Die historischen Verträge sind - nach heutigem Verständnis - zum Teil richtig lyrisch abgefaßt (»Solange das Gras wächst, solange die Wasser fließen» etc.). Neben den Buchstaben eines Vertrages ist auch sein Geist von Bedeutung. Viele Wörter haben heute andere Bedeutungen oder wecken andere Assoziationen als damals. Oft sprachen die Vertragsparteien auch gar keine gemeinsame Sprache, so daß von Übersetzern (zum Teil von zweifelhafter Begabung oder mit Täuschungsabsichten) hin- und her übersetzt wurde. Die Folgen liegen auf der Hand. Martínez verweist deutlich darauf, daß es in der Verantwortung beider Nachfolger der Vertragspartner liegt, die ursprünglich gemeinte Bedeutung zu entdecken.

Ein Kritikpunkt, den Martínez sich wohl gefallen lassen muß, ist seine geringe Erwähnung von Afrika und Asien. Seine Studie konzentriert sich eher auf die übrigen Kontinente, was hauptsächlich daran liegt, daß es dort mehr Verträge gibt. Es gibt jedoch ein paar Passagen im Text, die sich dahingehend interpretieren lassen, Martínez sei der Meinung, in Afrika und Asien gäbe es nur wenige indigene Völker, die die Klassifikation erfüllen - was ihm natürlich heftige Angriffe in der Diskussion sicherte.

Die europäischen Unterstützer im formlosen Meeting in der Cafeteria (Foto Oliver Kluge 1998) Insgesamt ist die Studie wohl positiv zu betrachten. Sobald sie zu einem offiziellen UNO-Dokument wird, stellt sie nichts geringeres als eine Waffe dar, eine Waffe gegen die ewig gleichen Behauptungen der Regierungen, daß ihre Schwierigkeiten mit den Ureinwohnern nur innere Angelegenheiten wären, und nicht etwa ein Disput zwischen unabhängigen Nationen. Deshalb ist zu erwarten, daß die Nationalstaaten ihren Widerstand gegen die Studie nicht aufgeben werden, und jede sich bietende Gelegenheit nutzen werden, sie zu diskreditieren. Dem muß mit aller Vehemenz entgegen gehalten werden. Dieses einmalige Instrument dürfen sich die Ureinwohner und ihre Unterstützer nicht wieder aus der Hand nehmen lassen.

Die Treaty Study ist viel zu umfangreich, um sie im Coyote abzudrucken, auch wenn das wegen ihrer Bedeutung durchaus angebracht wäre. Statt dessen haben wir sie ins Internet gestellt. Sie steht auf unserer Homepage unter http://www.chip.de/staff/kluge/bmag/uno/study.

Erstellt von oliver. Letzte Änderung: Donnerstag, 27. Januar 2022 22:55:19 CET von oliver. (Version 16)

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